Die zartbitteren Kindheitserinnerungen des Francois Truffaut.
Francois Truffauts Spielfilmdebüt lässt sich am treffendsten mit dem Schmetterlingseffekt vergleichen, welcher einer kleinen Anomalie die Fähigkeit einräumt, unabsehbare Konsequenzen für die Zukunft nach sich zu ziehen. Diese kleine Anomalie im französischen Kino Ende der 50er Jahre nennt sich „Sie küßten und sie schlugen ihn“ (1959). Eine Auflehnung gegen den konventionellen französischen Film, mit welchem der damals 27-Jährige bereits in seiner Tätigkeit als Filmkritiker scharf ins Gericht gegangen ist. Der Gestus des Aufbegehrens bleibt jedoch nicht allein prägend für dieses Erstlingswerk. „Sie küßten und sie schlugen ihn“ liest sich ebenso als Dokument der Liebe – Truffauts Liebe zum Kino, so wie er es sich erträumt und für die Zukunft erhofft. Keine unbegründete Hoffnung, wie die Folgen des „Flügelschlags“ zeigen sollen…
„Sie küßten und sie schlugen ihn“ bekleidet in Truffauts Gesamtwerk eine ganz besondere Position. Er markiert einen Anfang in dreierlei Hinsicht – den Anfang einer erstaunlichen Karriere, die Initialzündung der Nouvelle Vague sowie den Beginn des Antoine-Doinel-Zykluses. Jener ist Truffauts filmisches Alter Ego, dessen Lebens- und Leidensweg ihn Zeit seiner Karriere beschäftigen sollte („Liebe mit Zwanzig“ (1962), „Geraubte Küsse“ (1968), „Tisch und Bett“ (1970) und „Liebe auf der Flucht“ (1979). Anhand dieses Ersatz-Ichs betrieb Truffaut über die Spanne von 20 Jahren eine Art kreative Selbsttherapie – getarnt unter dem Mantel des Geschichtenerzählens.
Trotz der von Truffaut bestrittenen autobiographischen Inhalte lässt sich dieser essentielle Aspekt des Werks nur schwerlich wegdiskutieren. Im Charakter des Protagonisten Doinel sind unzählige Erlebnisse, Gefühle und Verhaltensmuster des Regisseurs angelegt. Truffaut zeichnet ein fein durchstrukturiertes Psychogramm auf der reichhaltigen Basis eigener Lebenserfahrung. Verlorenheit und Haltlosigkeit in einer seltsam befremdlichen Welt spielen dabei eine genauso zentrale Rolle wie das Motiv des Durchkämpfens. Doinel, nach gängigem Sprachgebrauch ein Problemkind, lügt, klaut und lehnt jegliche Form der Autorität (egal ob Lehrer, Eltern oder das Erziehungsheim) ab. Nichtsdestotrotz findet sich in ihm (abgesehen vom Schulkameraden René, welcher dem Jugendfreund Robert Lachenay nachempfunden ist) der alleinige Sympathieträger des Films. Dieses starke Mitgefühl bezieht Doinel maßgeblich aus seiner vor dem Leben versteckten Seite - einer empfindsamen und aufgeweckten Facette, die ihn mit dem Rücken zur kalten Wand zeigt. Ein Blickwinkel, der allein dem Publikum vorbehalten bleibt und die Geschichte nuanciert.
Obwohl der Regisseur sein Alter Ego erkennbar als Opfer der Umstände (insbesondere des kühlen Elternhauses) zeichnet, fehlt ein wirklich anklagender Ton, um den Film als frontalen Angriff auf Mutter und Vater Truffaut zu werten. Es ist vielmehr die ausgesprochen reife Auseinandersetzung mit seinem Sujet, die das Werk maßgeblich prägt. Den Zuschauer beschleicht nicht das Gefühl einem bockigen Kind bei der Vergeltung seiner Jugendjahre beizuwohnen. Stattdessen erweckt der Film den Eindruck einer Rechtfertigung Truffauts, mit der er Zeugnis davon ablegen will, warum er ist, wie er ist. Warum er agiert, wie er agiert. Diese Gedanken korrelieren mit dem Gefühl, nicht aus der eigenen Haut hinaus zu können. Eine Haut, die man nicht will oder gar akzeptieren kann, obwohl sie bedauerlicherweise wie ein Maßanzug zu sitzen scheint. Verständlicherweise sind dies relativierende Einschätzungen, welche Truffauts Eltern zur damaligen Zeit nicht teilen konnten, denn „Sie küßten und sie schlugen ihn“ ist zweifelsohne harter Tobak und hat das ohnehin schon stark angespannte Familienverhältnis noch zusätzlich strapaziert. Ein Umstand, der schließlich zur bereits erwähnten, öffentlichen Leugnung der autobiographischen Ebene geführt hat – nachvollziehbar, jedoch wenig glaubhaft.
Aus den ruhigen, gar bedächtig-schön anmutenden Bildern bahnen sich zu jedem Zeitpunkt Truffauts Jugendjahre ihren Weg. Die stark gestörte Beziehung zur Mutter ist genauso wie das familiärere Verhältnis zum (Stief-!)Vater charakteristisch. Seine Zeit in der Jugenderziehungsanstalt, der Diebstahl der Schreibmaschine aus dem Büro des Vaters, die Streitigkeiten der Eltern untereinander und die damit verbundene Flucht von Hause. Das ist Truffaut. Film verschmilzt mit Leben, Leben verschmilzt mit Film. Beide Aspekte zehren voneinander und bereichern die jeweils komplementäre Sphäre. Dabei changiert „Sie küßten und sie schlugen ihn“, wie der zwar nicht wirklich werksgetreue deutsche Filmtitel andeutet, subtil zwischen Gefühlswelten. Diese bindet der Regisseur geschickt an Räumlichkeiten und Personen. Zeitlich begrenzte, glückliche Momente sind dem jungen Doinel vorrangig in Gegenwart seines Freundes René vorbehalten, mit dem er sich auf Jahrmärkten und in Spielhöllen austobt. Im Gegenzug dazu werfen die heimischen vier Wände genauso wie die Schule finstere Schatten voraus, welche selbst dann, als endlich Besserung im Hause Doinel einzukehren scheint, nicht weichen wollen.
Die finstersten Schatten wären in ihrer allumfassenden Intensität jedoch nichtig, gäbe es nicht ein talentiertes Gesicht, das sie zu reflektieren vermag - ein solches hat Truffaut im damals noch jungen Jean-Pierre Léaud gefunden. Facettenreich und mit dem richtigen Gespür für die Rolle verkörpert er den kleinen Rebellen Doinel. Dabei muss es sich der Rest des Casts gefallen lassen, von ihm an die Wand gespielt zu werden. Allein das poetisch-abrupte Ende am Meeresstrand, Doinels eingefrorener Gesichtsausdruck, welcher in seiner Komplexität kaum fassbar anmutet, zerstreut jedweden Zweifel bezüglich seiner Fähigkeiten. Er wirkt beinahe selbst überrascht, dass der Film an dieser Stelle sein Ende findet. Erstaunen darüber, dass er es bis hier hin – bis zu seinem selbst gesteckten Ziel: dem Meer – geschafft hat, spiegelt sich in seinem Gesichtsausdruck. Gleichermaßen aber auch Angst. Das Meer und die damit assoziierte Freiheit hat er erreicht, aber was kommt danach? Eine Frage, die der Regisseur an dieser Stelle nicht beantworten will oder vielleicht auch noch gar nicht kann.
Alles in allem gelang Francois Truffaut mit „Sie küßten und sie schlugen ihn“ ein außergewöhnliches Spielfilmdebüt. Eine einfühlsame Reminiszenz an die Jugend, die ohne jegliches Selbstmitleid funktioniert. Nicht klischeehaft, sondern menschlich und nachdenklich. Nicht überdramatisiert, sondern melancholisch und bedrückend real. Dergleichen nähert er sich jugendlichen Ängsten, Hoffnungen und Wünschen, die nicht ungehört bleiben wollen. (9/10 Punkten)
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